Wie es wirklich ist, Reiseleiterin zu sein

03.12.2020

Salzburg, Getreidegasse und über 30 Grad. Hier stehe ich mit zehn Amerikanern. Eigentlich sollten es 70 sein. Und eigentlich sollten wir auch schon längst beim Busbahnhof am anderen Ende der Stadt sein. Doch die 1,5 Kilometer, die wir jetzt schnellsten Schrittes zurücklegen sollten, sind viel zu lange für die geh-unwilligen US-Amerikaner und die Schlange bei McDonalds noch voller Gruppenmitglieder, auf die ich verzweifelt warte.

Eine Reise durch Mitteleuropa als Reiseleiterin zu begleiten, ist wirklich kein Zuckerschlecken. Gemeinsam mit Familien aus Pittsburgh und Washington reise ich acht Tage lang durch München, Salzburg, Klagenfurt und Venedig. In keiner dieser Städte kenne ich mich ernsthaft aus. Der Trip ist um eine vier-tägige Sportveranstaltung in Klagenfurt aufgebaut. Mini - Olympische Spiele, bei denen die Kids meiner Gruppe mehrmals tanzen werden. Sie sind das erste Tanz-Team der Sportveranstaltung und treten so nicht zu Wettbewerben an, sondern haben nur hin und wieder einen Auftritt. Daher reichlich Zeit für Kulturprogramm mit mir. Schön.

Ich jedoch bin keinesfalls als Reiseleiterin ausgebildet. Meine eigentliche Jobbeschreibung lautet "Delegation Manager". Ich zähle, ob alle im Bus sind, scheuche sie zum Hofbräuhaus in München, zahle rund 900 Euro für jedes Essen der Gruppe und achte darauf, dass alle Auftritte glattlaufen. Ganz und gar nicht bin ich dafür qualifiziert, eine Tour durch das Konzentrationslager Dachau zu geben, in dem ich noch nie war. Aber genau so beginnt mein erster Nachmittag mit der Gruppe. Da eine Führung erwartet wurde, und für uns nur Audioguides da sind, übernehme ich spontan. Eine Situation, in der ich mich nicht gesehen habe, als ich an diesem Tag aus dem Bett stieg. Zum Glück interessiere ich mich privat sehr für diesen Teil der Geschichte und kann spontan einiges erzählen, fühle mich aber trotzdem restlos überfordert.

"Wo kann man hier das Wasser auffüllen?" "Wo ist das nächste Klo?" "Wo gibt's hier gutes Fast Food?" "Warum liegen hier so viele Flaschendeckel am Boden?". In Minutentakt werde ich mit Fragen konfrontiert, die ich nicht beantworten kann. Ich rate, erfinde Erklärungen und schaue mich um, wo ich das nächste Schild sehe, dass auf eine Toilette hindeutet. Denn eigentlich können sich die Gruppenmitglieder ein Großteil ihrer Fragen auch selbst beantworten. Nur, weil ich mir vor einigen Jahren auch mal München angeschaut habe, weiß ich auch nicht wo jetzt hier, mitten im Stadtzentrum, die nächste Toilette ist. Fast alle Fragen aber kann ich mit Hausverstand und offenen Augen beantworten. Könnten die Gruppenmitglieder eigentlich auch. Aber sobald man Teil einer Reisegruppe ist, scheint sich das Gehirn automatisch abzuschalten.

Am meisten tanzen nicht die Kinder, sondern ihre Eltern auf meinen Nerven herum. Sie haben hohe Ansprüche, beschweren sich über alles, sind aber nicht zurechnungsfähiger als ihre Kinder im Alter von zehn bis 18 Jahren. Viele US-Amerikaner nehmen sich im Jahr nur etwa zwei Wochen Urlaub und verbringen mit Hin- und Rückflug zehn Tage davon mit mir. Verständlich, dass sie sich viel erwarten. Verständlich, dass ein unglaublicher Druck auf mir lastet.

Verrückt, unzumutbar und als Tortur wird der Bus bezeichnet, in dem wir während unseres Aufenthalts unterwegs sind. Der Doppeldecker ist im oberen Stockwerk an den Seiten vollkommen mit Glasfenstern verglast, heizt sich also ziemlich auf. Natürlich dauert es eine Weile, bis die Klimaanlage genug kalte Luft in alle Bereiche des Busses pumpt. Aber die Leute beschweren und beschweren sich. Ich rede mehrmals mit dem Busfahrer, der telefoniert schließlich mit seinem Chef. Doch die Klimaanlage sei bereits auf die kälteste Stufe gedreht. Also bleibt uns nicht anderes übrig, als die Vorhänge zu schließen, wenn die Reisenden den Bus verlassen. Verzweifelt telefoniere ich mit meiner Chefin, ob wir den Bus austauschen können, der Busfahrer fährt zum Mechaniker. Der lacht nur.

Unsere Amerikaner haben die Klimaanlagen über ihren Köpfen selbst zugedreht. "Don´t touch the AC above your head" sage ich deshalb, sobald alle wieder im Bus sind. Doch alle Hände gehen hoch. Alle berühren die Klimaanlage und drehen sie wieder zu. "Aber da kommt doch heiße Luft raus, das wollen wir nicht" heißt es. Sehr freundlich und gezwungen ruhig erkläre ich also, dass immer heiße Luft herauskommt, wenn der Motor startet, und sie einfach ein paar Minuten warten müssen. Es ist ihnen egal. Die Klimaanlagen sind zugedreht und alle beschweren sich nochmal, dass es zu heiß sei.

Die Gruppe ist fast immer pünktlich, für mich sehr erleichternd. Ein großes Problem aber ist, dass meine US-Sportlerfamilien unwillig sind, mehr als einen Kilometer zu Fuß zu gehen. So müssen ständig Transporte organisiert werden, die so nicht vorgesehen sind, und um die ich jedes Mal kämpfen muss. Gebe ich Anweisungen dreimal, wird zehnmal nachgefragt. Jedes Detail des Programms muss inhaltlich völlig klar sein. Nein, ich war noch nie im Salzbergwerk Berchtesgaden. Nein, ich weiß nicht, ob wir da einen kurz- oder einen langärmeligen Schutzanzug bekommen.

Es sind auch nette Personen in der Gruppe. Ich habe interessante Gespräche und bekomme durchaus positives Feedback, habe das Gefühl geschätzt zu werden. Trotzdem reicht es nicht, um mir insgesamt ein positives Gefühl zu vermitteln. Ständig werde ich mit Fragen und Problemen konfrontiert und muss eine Lösung für Unlösbares finden. Als Reiseleiter steht man ständig zwischen den Fronten, muss vermitteln und schlechte Nachrichten überbringen. Mehrmals fühle ich mich überfordert, auch mein Körper ist völlig verspannt. Über US-Amerikaner und meine Zeit mit ihnen könnte ich ein Buch schreiben, in näherer Zukunft aber nicht Material für ein Zweites sammeln. Mit 70 Amerikanern durch Europa. Einmal und nie wieder. 

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