Kulturschock vorprogrammiert - Indien
Hupen, laute Motorengeräusche und Trucks, die bei jeder Bodenwelle so laut scheppern, dass es so klingt als würden sie auseinanderfallen. Mittendrin steht eine Kuh, die sich von all dem Lärm nicht beirren lässt. Im Gegenteil, sie überquert die Straße so entspannt, wie ich es mir nur erträumen kann. In Indien gilt die Kuh als ein völlig normaler Verkehrsteilnehmer. Für mich aber stellt das Überqueren der Straße eine ziemliche Herausforderung dar. Denn neben dem üblichen Wahnsinn in Asien ist es in Indien keine Seltenheit außer Kühen auch Wildschweine als Verkehrsteilnehmer zu sehen. Sie machen sich über den Müll her, von dem es hier genug gibt. Plastik, auf den Gehwegen und Straßen. Vor der eigenen Haustür kehren können die Inder aber gut. Immer wieder sehe ich Hausfrauen, die mit improvisierten Besen ihren Hauseingang von Müll frei halten.
"Auf das, was du in Indien siehst, kannst du dich nicht vorbereiten" höre ich mehrmals von anderen Reisenden, wenn ich mich mit ihnen über das Land unterhalte. Niemand vergisst sein erstes Mal in Indien, heißt es. Selbst erfahrene Reisende sind sich einig: Indien ist einfach anders als der Rest der Welt, ein eigenes Universum. Ist ein Kulturschock in Indien wirklich vorprogrammiert? Die längste Zeit hat mich mein Respekt vor Indien davon abgehalten, das Land zu besuchen. Mit der Zeit aber wächst die Neugier und ich werde hungrig auf den Schock, der mich erwartet.
Wann wird er mich erwischen?
Es ist 4:30 als ich nach stundenlanger Flugverspätung meinen Fuß auf den Boden von Neu Delhi setze. Die erste Überraschung: von der Schwüle, die ich aus anderen asiatischen Ländern allzu gut kenne, ist hier nichts zu spüren. In den Morgenstunden wirkt Indiens Hauptstadt deutlich entspannter, als ich sie mir vorgestellt habe. Ja, es sind unglaublich viele Menschen auf der Straße aber der Umgang miteinander wirkt respektvoll - niemand schreit herum, oder beeilt sich irgendwohin. Stress kommt dann aber doch auf, wenn ich die lauten Hupen rund um mich höre. In Indien hupt man nicht nur, um auf sich aufmerksam zu machen. Auch um "Hallo" zu sagen, die Aufmerksamkeit der Touristen zu bekommen oder einfach, weil es Spaß macht wird hier gehupt.
Ich bekomme auf dieser Reise nur einen Vorgeschmack auf das, was sich in diesem Land mit 1,35 Milliarden Einwohnern verbirgt. Die Route, die mich durch Nordindien führt ist wahrscheinlich am nächsten am Mainstream dran, wie man in Indien kommt. Wir landen in Neu Delhi, fahren nach Jaipur und schließen in Agra mit dem Taj Mahal ab. Die Route heißt das goldene Dreieck und macht seinem Namen alle Ehre.
Das Indien, das ich nicht erwartet hatte
Neben bekannten Attraktionen wie dem imposanten Minarett "Qutub Minar" beeindruckt mich die Kabellandschaft in den kleinen Gassen am meisten. Tausende Kabeln, die offen zwischen Häusern gespannt sind - das ist Indien, wie ich es mir vorgestellt habe. Was ich mir nicht unbedingt erwartet habe, sind die wirklich wunderschönen Gebäude, die ich zu Gesicht bekomme. Das Fort Amber nahe Jaipur und das Fort von Agra rauben mir schlichtweg den Atem. So wunderschöne Gebäudekomplexe, von denen zumindest ich davor noch nichts gehört habe, überraschen mich hier sehr.

Auf den ersten Blick habe ich die Inder selbst in sehr ärmlichen Regionen als "westlicher" wahrgenommen, als in manch anderen asiatischen Ländern. Hier denke ich zum Beispiel an Indonesien, wo beispielsweise in manchen Städten barfuß herumgelaufen wird. Vor allem die männlichen Inder sind fast ausschließlich westlich gekleidet, den Frauen scheint ihre traditionelle Kleidung wichtiger zu sein. Vielleicht haben sie da aber auch nichts mitzureden.
Der Schein will bei der Hochzeit gewahrt sein
Der Alltag als Frau in Indien entwickelt sich nicht so rasant Richtung moderne Welt, wie es viele andere Bereiche im Land tun. Noch immer spielt die Hochzeit, in Indien eine riesige Rolle. Selbst als ich unter der Woche durch kleine Dörfer und Städte fahre, sehe ich täglich einige Hochzeiten. Etwa 400 Gäste sind zu diesen Feiern geladen, erzählt ein Guide. Die Familien verschulden sich oft ihr Leben lang. Aber der Schein scheint hier mehr zu zählen als die Wirklichkeit.

Ein indischer Freund, Nik, erzählt mir, dass es in Indien extrem wichtig wäre, wie die Familie nach außen hin wirke. Auch deshalb tragen Frauen oft prunkvolle Kleidung und Schmuck, obwohl ihr Heim von innen überhaupt nicht so aussehe und das Geld in anderen Bereichen ihres Lebens oft dringend gebraucht wird. Das Ansehen sei für indische Familien extrem wichtig, so Nik. Während meines Besuchs verstehe ich immer mehr und mehr, was er damit meint.
Warum mich Jaipur verwirrt und begeistert
Auf steinigen "Autobahnen" rumpele ich die nächsten Tage durch Rajasthan, das berühmteste aber ärmste Bundesland Indiens mit 68,5 Millionen Einwohnern. Eine Zahl, bei der hier niemand mit der Wimper zuckt. Jaipur, eine mit 3,5 Millionen Einwohnern eher kleine Stadt für indische Verhältnisse, ist die beeindruckende Hauptstadt des Bundeslands. Hier steht unter anderem der berühmte "Palast der Winde", mitten neben der Hauptstraße. Auch das ist Indien - Prunkgebäude direkt neben ärmlichen Straßenverkäufern, die sich mit einfachen Speisen über Wasser halten wollen.
Ich verstehe die Stadt total falsch, bin aber beeindruckt von ihr. Mein Papa, der mich auf dieser Reise begleitet, und ich suchen verzweifelt das Zentrum der Stadt - und finden es nicht. Denn indische Städte, selbst jene mit 3,5 Millionen Einwohnern sind anders aufgebaut wie westliche Städte. Sie haben kein Zentrum. Ja, es gibt Verkehrsadern, die besonders stark befahren sind - sie könnte man als Zentrum bezeichnen. Aber was sich dort befindet ist nicht die gemütliche Fußgängerzone oder Sehenswürdigkeiten, wie wir sie aus anderen Ländern kennen.

Jetzt verstehe ich, was die Abenteurer meinen, wenn sie sagen, Indien sei anders als alle anderen Orte dieser Welt. Selten habe ich den Kontrast so stark gesehen wie hier. Kontrast zwischen Arm und Reich und Modernität und Tradition.
In Indien beeindruckt das Leben
Wie könnte ich meine Reise durch das goldene Dreieck Indiens würdiger abschließen, als mit einem letzten Sonnenaufgang vor dem Taj Mahal? Natürlich, das Gebäude ist überwältigend und mit das Schönste, was ich je gesehen habe. Aber das, was mich an Indien am meisten beeindruckt, ist es nicht. Es ist das einfache Leben der Menschen hier, über das es noch so viel zu erfahren gibt. Die Kühe auf der Straße, die sorglos zwischen Lastwagen spazieren, die jungen Bräute, die den einschneidendsten Tag ihres Lebens feiern. Die aufstrebenden Technik-Genies, deren Mehrheit in die USA auswandern will, um da ihr Glück zu finden. Der einfache Alltag in diesem polarisierenden Land wird mir noch viel länger in Erinnerung bleiben, als die wunderschönen Gebäude.
Der Kulturschock kommt nicht - dafür aber ein unerwarteter Hunger auf mehr.